Mit dem Weißraum ist es für Grafiker so wie mit der Luft für uns andere Menschen. Fehlt er, wird’s eng. Der Blick verschwimmt, die Zeilen fließen ineinander, das Auge tränt. Traditionsgemäß muss um jeden Zentimeter Luft gekämpft werden. Mit dem Chefredakteur, dem Autor, dem Kunden. Denn der Drang zur Auffüllung hat Tradition. Das Eliminieren von Weißraum – so die Bezeichnung für den gestalterischen Negativraum – stammt aus den Tagen, als Druck noch deutlich teurer war und jeder Zentimeter des Druckbogens mit Schrift oder Motiv gefüllt wurde. Der Beginn einer Sehtradition, die Generationen von Betrachtern und Lesern an die Überfüllung von Zeitungsbögen, Magazinseiten, Anzeigentafeln, Produktflyern, Verpackungen und zuletzt auch Webseiten gewöhnt hat. Aber mal ehrlich: Hilft viel viel?
Aus der musealen Geschichte stammt der Begriff der White Box, einem nackten, weißen, vollkommen neutralen Ausstellungsraum, der das Auge des Betrachters auf keine Weise vom Kunstobjekt ablenkt. Das White-Box-Modell steht für ein Prinzip, das in abgewandelter Form auch für das Editorial Design und seine digitalen Spielarten zutrifft: Weniger ist mehr. Negativraum lässt Luft für die optimale Wahrnehmung. Ungetrübt und unangestrengt kann das Auge Inhalte aufnehmen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Umgekehrt zwingt Weißraum die Kreativen im Schöpfungsprozess zu absoluter Präzision. Und ein zweites ästhetisches Prinzip kommt zum Tragen: Weiß ist edel. Viel Weiß edler. Schlicht gestaltete Seiten, dezente Produktdesigns, eine nahezu unbeschriftete Verpackung verströmen jene siegessichere Gelassenheit, die im Marketing den entscheidenden Vorsprung birgt und Marken eine nahezu auratische Kraft verleiht. Übrigens: Weißraum muss nicht einmal weiß sein. Weiß geht nämlich auch farbig.
Das alles gilt im digitalen Zeitalter natürlich auch für Online-Medien. Folgt auf die überfrachtete Webseite, den überfüllten Blog oder die blinkende App eine luftig gestaltete Seite mit klar strukturiertem Content, aufgeräumter Typografie und einer bewussten Reduzierung auf ausgewählte Farben, holt das Auge metaphorisch Luft. Das ästhetische Zentrum in unserem Gehirn atmet durch. Natürlich stellt das Web- und Appdesigner vor neue Herausforderungen. Denn wo Luft ist, darf deswegen kein erhöhter Bedienaufwand entstehen. Und eine schlichte optische Reduzierung hebt mangelhaften Content nicht aufs Siegertreppchen. Gelungener digitaler Weißraum strukturiert Inhalte intelligent und orientiert den User maximal. Wie beim gedruckten Objekt besteht auch hier die Kunst in der gekonnten Verdichtung.